Die Entstehung des Namens Tattermusch

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1. Allgemeines

Der Name Tattermusch ist selten, das macht schon ein Blick in ein Telefonbuch deutlich. Auch dann, wenn man auf einen anderen Namensträger antrifft, ist dieser oft verblüfft über die Begegnung, weil er in der Überzeugung lebt, er sei mit diesem ungewöhnlichen Namen recht allein auf dieser Welt. Tatsache ist, dass es gegenwärtig in Europa nicht mehr als 100 Menschen gibt, die den Namen Tattermusch tragen.

Aber auch der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass es immer nur relativ wenige Namensträger gab und dass alle diese Namensträger offensichtlich einen gemeinsamen Ursprung haben, der örtlich in Nord-Westböhmen liegt und zeitlich in die ersten 30 Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges fällt.

2. Kirchenbücher und Urkunden als Hinweise auf die Namensentstehung

Die Kirchenbücher und Urkunden, die man auf dem Weg in diese Zeit anschaut, weisen darauf hin, dass zumindest vor 1750 der Name auch immer wieder in unterschiedlicher Weise geschrieben wurde. So tauchen dann die Schreibweisen Tatermusch und Tadtermusch auf und vor 1690 die Schreibweise Taterman(n) bzw. Tadtermann.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass in den Untertanenverzeichnissen (Seelenlisten) von 1651 für viele Untertanen überhaupt nur ein Vorname vermerkt ist, ja, dass es ganze Ortschaften gab, in denen die Untertanen offensichtlich noch keinen Zunamen führten. In den Erläuterungen von A. Pazderova (Zentralarchiv in Prag) zu dem Untertanenverzeichnis von 1651 für den Rakonitzer Kreis (Soupis poddaných podle víry - Rakovnicko) wird darauf hingewiesen, das sich erst in der Zeit nach dem 30jährigen Krieg viele Zunamen bildeten und stabilisierten. Was diese sich neu bildenden Namen bedeuteten, sei – so A. Pazderova - mitunter schwer zu entscheiden, könnte es sich doch um echte Zuordnungen, einen Beruf oder aber auch um einen Scherznamen handeln.

3. Deutungen des Namens Tatermann in früherer Zeit / Der Tatermann als Kobold

Was kann nun der Name Tattermusch in seiner ältesten Form, also „Tatermann“ bedeuten? Der Name war immerhin so bemerkenswert, dass ihn Jacob Grimm in seiner Deutschen Mythologie (Berlin 1835) aufgegriffen und behandelt hat. Er stellt den Namen Taterman schon im 14. Jahrhundert in der Bedeutung „Kobold“ (kleine aus Buchsbaum geschnitzte Hausgeister – wie man sie auch heute noch als Zwerge oder Nußknacker kennt) fest und weist darauf hin, dass das Wort Taterman uns in altböhmischen Denkmälern begegnet und dort Puppe oder Götze bedeutet. Grimm scheint das Wort dem slawischen Dialekte fremd und dem deutschen entlehnt zu sein. Er führt weiter aus, dass sich der Name wohl erst durch eine tiefere Einsicht in die Geschichte des Puppenspiels erschließen würde und verweist in einer Anmerkung dann auf Hanusch (Slawische Mythologie), der den Tatermann für einen Wassergeist hält.

Zu diesem Hinweis paßt der alte böhmisches Kinderreim
Hastrmane, tatrmane
dei kúži na buben,
mi ti budem bubnowati
aš budeš z wodi wen.
d. h.
Hastrmann, Tatrmann
gib die Haut her für die Trommel,
wir werden auf dir trommeln
bis du aus dem Wasser herauskommst.
Auch hier wird das Wort Tatermann mit dem Wassergeist zusammengestellt, während sonst Kobold und Tatermann zusammen genannt werden. Götzen, auch kleine geschnitzte Puppen wurden so benannt, die in den Volksspielen wahrscheinlich zu Gaukeleien benutzt wurden.

Otto Tattermusch (Prag) berichtete mir, dass früher in der Gegend um Saaz, Laun und Rakovnik die hölzernen Wasserpumpen vor den Bauernhöfen mit geschnitzten Holzfiguren versehen wurden. Diese Figuren wurden als Tatrmann / Tatrmuž bezeichnet.

Im ČESKO-NĚMECKO-SLOVNIK von Siebenschein (Prag 1970) wird Tatrman mit Gaukler/Possenreißer übersetzt.

Eine vorsichtige Schlußfolgerung: Also könnte der erste Träger des Namens jemand gewesen sein, der entweder Holzpuppen schnitzte oder besaß oder mit ihnen als Gaukler auftrat oder an dem Brunnen vor seinem Haus eine besondere Holzfigur stehen hatte.

4. Das Vorkommen des Namens im Fränkischen

Es gibt weitere Deutungsmöglichkeiten: Das bairische (Schmell. 1, 462) tattern heißt zittern, der Tattermann ist eine im Winde zitternde Vogelscheuche. Im Sinne von Zittern kommt es auch in der österr. Mundart (dått'rn) vor (Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 205).

Im Zuge der aktuellen Altstadtsanierung in Bamberg hat man sich auch mit der Tattermannsäule beschäftigt, die vor der alten Hofhaltung auf dem Domplatz stand. Es war eine schlanke Säule mit einer Figur, die im Volksmund Tattermann hieß, deren Entstehung auf die Zeit um 1240 datiert wird und die den von Kaiser Heinrich II. bestimmten Mittelpunkt des Reiches (lateinisch: umbilicus imperii), also den Nabel der Welt bezeichnete. (Hierzu mit weiteren Hinweisen: F. Kohlschein, Die Bamberger Tattermannsäule als Nabel der Welt? In: Historischer Verein Bamberg, Bericht 139 S. 103 ff.)

Dieser Tattermann war wahrscheinlich eine stark verwitterte Figur, die nach einer Darstellung von 1777 einen nach Osten blickenden Christus darstellte, der den rechten Arm zur Segensgebärde erhebt. Diese Säule, von der Johann Georg Kaufmann zwei Jahre vorher noch eine Zeichnung angefertigt hatte, wurde wegen Baufälligkeit im Januar 1779 abgerissen. Die Säule hatte eine Höhe von 8,42 Metern, wovon die Figur des segnenden Christus 1,74 Meter einnahm. Der Standort der Säule ist noch heute auf dem Domplatz durch einen Bronze-Nagel im Pflaster markiert. Von der Säule gibt es ab 1470/75 verschiedene überlieferte Abbildungen. Warum diese Christussäule den Namen Tattermannsäule trug, ist nicht ganz klar. Es gibt hier mehrere Vermutungen: Einige Interpreten sehen in der Figur eine Darstellung des Christus als Sieger über die Unterwelt, den Tartarus. Andere interpretieren den Namen so, dass die Figur aufgrund  ihrer starken Verwitterung den Spitznamen „Tattermann“ im Sinne eines tattrigen, d.h. koboldartigen, zitternden Wesens bekommen (so auch A. Schuster in Bamberger Taschenbuch, 1903). Interessanterweise läßt sich die bedeutung von Tatterman als Götze oder Kobold  im Renner des Schulmeisters Hugo von Trimberg (1260-1309) des Stiftes St. Gangolf in Bamberg nachweisen (Hierzu: O. Hartig, Die ehemalige Tatermannsäule vor dem heutigen Heimatmuseum in Bamberg, in: Bamberger Blätter für fränkische Kunst und Geschichte, 15 (1938) Nr. 6, S. 21 f).

Besonders schön ist die untenstehende Abbildung aus dem Jahre 1628: Tattermannsäule auf dem Bamberger Domplatz: Bischof Otto der Heilige (1102-1139) empfängt auf dem Domplatz eine polnische Gesandtschaft, die ihn als Missionar in Pommern anwirbt. Dieses Gemälde aus dem Jahre 1628 in der Michelskirche zeigt noch die Tattermannsäule als Umbilicus (Nabel) des Reiches. Von hier aus wurden die Straßen gemessen.

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Am Freitag, 18. Mai 2007 wurde in Bamberg eine Plastik der Öffentlichkeit übergeben: eine Arbeit des israelischen Künstlers Micha Ullman. Erschuf quasi eine negative Säule, die durch einen in Form eines Hauses ausgehöhlten Granit in die Erde eingelassen ist, dort wo sich einst der Nabel der Welt befand. Damit erhält der Domplatz, einer der schönsten Plätze Europas, einen neuen markanten Punkt, ohne dass sich der Ort in seinem Eindruck verändert. Der Betrachter wird in dem Abschlussglas den Himmel, den Dom und die umliegenden Gebäude gespiegelt sehen und wird hineinschauend gleichzeitig selbst zur Tattermannsäule.

5. Das Auftauchen des Namens in Nord-Westböhmen

Die Frage schließt sich an, wann und wie dann dieser wohl aus dem Fränkischen/Bayrischen kommende Name nach Westböhmen gelangt ist.

Das älteste bisher bekannte Vorkommen ist in Nedowitz (Westböhmen) festgestellt worden. Für das Dorf Nedowitz ist aber im Untertanenverzeichnis von 1651  überhaupt kein Einwohner mehr verzeichnet. Das bedeutet, dass die Bewohner im Rahmen der Kriegshandlungen des Dreißigjährigen Krieges umgekommen sind oder dass dieses Dorf – wie viele andere auch – im 30jährigen Krieg von den Bewohnern verlassen worden war, jedenfalls zu einer Wüstung wurde und erst später neu besiedelt wurde. Die Neubesiedelung erfolgte vermutlich mit Franken, weil - wie Wenzel Rott in seinem Buch über den Landkreis Podersam (1901) vermerkt - noch um 1900 in Nedowitz einheitlich „ein schönes Fränkisch“ gesprochen wurde. Damit deutet sich auf diese Frage eine Antwort an, die aber noch eines sicheren Fundamentes bedarf. Fast zeitgleich taucht der Name Tattermann in Manetin auf. Aber auch dort kommt er Name in den Seelenlisten von 1651 nicht vor.

Eine Beantwortung der Frage, wann und wie dann dieser aus dem Fränkischen/Bayrischen kommende Name nach Westböhmen gelangt ist, wird also erst möglich sein, wenn es gelingt, doch noch weitere Erkenntnisse über die Zuwanderung aus Ostfranken in dieses Gebiet zu gewinnen.

6. Weitere Deutungen

Neben den dargestellten Thesen gibt es auch noch andere Überlieferungen / Deutungen, die der Vollständigkeit halber auch hier genannt werden sollen.

Josef Tattermusch (Frankfurt): In meiner Linie wird überliefert, dass der erste Tattermusch ein Schwede war, der im 30jährigen Kriege nach Böhmen kam und dort ansässig wurde. Lange wurde er von den Dorfbewohnern nicht anerkannt, bis er sich durch besondere Klugheit und Stärke auszeichnen konnte und dann sogar zum Bürgermeister gemacht wurde. Er soll in der Lage gewesen sein, auf seinem Rücken ein Mistwagen zu stemmen.

Heinz Tattermusch (Duisburg): Dimitri Iwanowitsch (1363 – 1389) brachte das größte Heer zusammen, das Rußland bis dahin gehabt hatte und schlug, da der heiligmäßig verehrte Abt Sergius den religiösen Eifer des Heeres entflammen konnte, das Tatarenheer auf dem Kulikowschen Felde am Don (1380). Dimitri, jetzt Donskai genannt, verlor aber Moskau wieder an Toktamysch (1382) und mußte Tribut zahen. Der Name Tattermusch geht somit auf einen Tataren zurück, der zum Heere des Fürsten Toktamysch gehörte. – Wie dieser Tatare nach Westböhmen gelangt sein soll, ist allerdings nicht bekannt.

Heintze-Cascorbi, Deutsche Namenskunde (Halle 1914); Gottschald, Deutsche Namenskunde  (Berlin, 1954): Es handelt sich um einen zusammengesetzten Namen, der aus zwei selbständigen Begriffen gebildet wurde:
- Tatter = Tatar / Zigeuner, hier gibt es allerdings eine Deutungskreuzung mit dem Wort þiuda (gotisch) oder þioda
   (altsächs.) = Volk
-  musch dürfte identisch sein mit dem böhm./tschech. Wort muž = Mann
Fazit: Der Name kann bedeuten Tatarenmann oder Zigeuner oder Mann des Volkes, wobei offen bleiben muss, ob damit  die Zuordnung zu einem bestimmten Volk gemeint werden sollte oder ob damit gemeint war „einfacher Mann“.

Dr. Freiherr Börries von Münchhausen, Windischleuba (1937): Tattermusch, Dottermusch, Tatermuz, Tattermann bedeutet Tatar, Tartar. Musch ist tschechisch Mann. Tater früher auch gleich Zigeuner. Das angehängte Mann ist nur verstärkend wie etwa bei Bettlersmann, Tischlersmann statt Bettler, Tischler. Der namensgebende Vorfahr hat also vielleicht durch dunkele Augen und Haare Anlaß zu dem Necknamen „Der Tatar, der Zigeuner“ gegeben. Auch Kobold kann das Wort Tatar bisweilen bedeuten.

saeule

Walter Tattermusch